S. Sonderegger u.a.(Hg.), Reichsstadt und Landwirtschaft

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Titel
Reichsstadt und Landwirtschaft.


Herausgeber
Sonderegger, Stefan; Wittmann, Helge; Guggenheimer, Dorothee
Erschienen
Petersberg 2020: Michael Imhof Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
von
Ansgar Schanbacher

Ähnlich wie der menschliche Körper kann auch der Organismus der Stadt nicht ohne den Austausch mit der Umgebung existieren. Die dabei laufenden Prozesse – der Metabolismus der Stadt – sind komplex: Der Einführung von Nahrungsmitteln, Energie, Wasser, Rohstoffen und gewerblichen Produkten stehen Umwandlungsvorgänge in ihrem Inneren und schliesslich die Abgabe von Abfällen, Abwasser, Rauch und Gewerbeprodukten gegenüber.1 Im Sammelband «Reichsstadt und Landwirtschaft» liegt der Schwerpunkt der Beiträge auf der Betrachtung von Lebensmitteln und pflanzlichen bzw. tierischen Rohstoffen, die in der Stadt konsumiert, gelagert oder weiterverarbeitet wurden. Die Zeit vom Spätmittelalter bis zum beginnenden 19. Jahrhundert umfassend, gibt der Band aufschlussreiche Einblicke in die ökonomischen und herrschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt und Umland, in Einzelaspekte der städtischen Landwirtschaft und der gewerblichen Verknüpfungen sowie in den Konsum der Stadtbewohnerschaft. Teilweise über die Rechtsform der Reichsstadt hinausgehend und mit einem regionalen Schwerpunkt im weiter gefassten Bodenseeraum (diesen behandeln fünf der zwölf Beiträge) werden unterschiedliche Akteursgruppen untersucht. Einerseits die städtischen Obrigkeiten mit ihrem Agieren, das sich zwischen der Sicherung des Gemeinwohls und ihren eigenen Interessen bewegte, andererseits städtische Korporationen sowie Individuen. Ausserhalb der Mauern standen der Stadt die Landes- und benachbarten Territorialherren gegenüber.

In zwei einführenden Beiträgen gehen Stefan Sonderegger und Franz Irsigler im Überblick und unter Heranziehung bewährter Modelle (S. 30–37) auf die Problematik der Stadt-Umland-Beziehungen ein, wobei die Frage nach dem jeweiligen Abhängigkeitsverhältnis (S. 11 f.) genauso wie die Rolle des städtischen Kapitals und der Umfang des von einzelnen Städten benötigten Versorgungsbereichs thematisiert wird (S. 19, 48). Die folgenden, ebenfalls mit qualitätsvollen Abbildungen versehenen Beiträge positionieren sich im gesetzten Rahmen, entwickeln jedoch teilweise darüber hinausgehende Fragestellungen.

Die Stadt Mühlhausen in Thüringen steht im Fokus der Beiträge von Helge Wittmann und Christian Stadelmaier. Während Wittmann innerhalb der Analyse des um 1282 entstandenen «Mühlhäuser Rechtsbuchs» lokale Rechtstraditionen betrachtet, die unter anderem den niedergerichtlichen Umgang mit Viehschäden und Felddiebstahl behandeln (S. 80 f.), geht Stadelmaier auf die agrarischen Aktivitäten der Zisterzienser in der Stadt im überlokalen Vergleich ein. Er zeigt anschaulich, wie der Stadthof des Klosters Volkenroda in Mühlhausen als Lager- und Absatzort, aber auch zur Verwaltung nahe gelegener Felder genutzt wurde, wie es aber auch zu lang anhaltenden Konflikten kommen konnte, wenn königliche Privilegien die Position eines Klosters stärkten (S. 124).

Reichsstädte waren sehr unterschiedlich mit eigenem Territorium ausgestattet. Ein solches Gegensatzpaar wird in zwei weiteren Aufsätzen anhand von Fallbeispielen aus der Schweiz dargestellt. Rezia Krauer zeigt für St. Gallen im Spätmittelalter wie und warum städtische Akteure im die Stadt umgebenden Territorium der Reichsabtei agierten und über den Kauf von Rechten und Gütern die regionale Landwirtschaft beeinflussten, wobei sie sich als dritter Akteur zwischen Grundherren und Bauern positionierten (S. 130). Peter Niederhäuser macht dagegen am Beispiel von Zürich deutlich, wie eine Reichsstadt ihr Territorium ausbaute, es aber dennoch für die Stadt schwierig war, daraus ökonomische Vorteile zu erzielen. Am Beispiel des Klosteramts Kappel zeigt er, wie Ausgaben im Almosenwesen und laufende Betriebskosten schwankenden landwirtschaftlichen Erträgen gegenüberstanden und städtische Gewinne reduzierten (S. 162).

Auf Nahrungsmittel im städtischen Kontext in einem engeren Sinn beziehen sich die beiden Beiträge von Niels Petersen und Frank Göttmann. Petersen untersucht dabei mithilfe vielfältiger Quellen, wie einer Stadtansicht von Braunschweig und des Gartenzinsregisters von Lüneburg, für die Zeit des 14. bis 16. Jahrhunderts die Lage der städtischen Gärten, die Eigentümerstrukturen sowie ihre Nutzung. Gärten machten nicht nur den Anbau verschiedenster Früchte möglich, die wie der Hopfen teilweise auch gewerblich genutzt wurden, sondern waren auch Orte von Erholung und Repräsentation. Weniger die meist privat gelagerten Gartenfrüchte als das wichtige Getreide wurde häufig innerhalb einer öffentlichen, zentralisierten Vorratshaltung gesammelt, aufbewahrt und verteilt. Göttmann zeigt für die Zeit vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert diese Funktionsweise des städtischen Kornhauses als «Klammer zwischen der Stadt und ihrem Umland» (S. 191) im Reich detailliert auf und behandelt dessen Situierung in der Stadt, seine Architektur, die Lagertechnik und die Organisation, die zum Beispiel über Kornhausordnungen geregelt wurde. Für den Bodenseeraum spricht er dabei von einem Städtenetzwerk, in dem erfolgreich Konkurrenz vermieden und der Getreidehandel koordiniert wurden (S. 198 f.).

Zwei weitere Beiträge betrachten städtische Gewerbezweige mit engem Bezug zur Landwirtschaft. Nicole Stadelmann zeigt anhand des Ledergewerbes von St. Gallen, wie sich Stadt und Land einer Region trotz unterschiedlicher politischer Zugehörigkeit gegenseitig beeinflussten und ergänzten und wie um den Bodensee im 17. und 18. Jahrhundert ein komplexes Viehhandelssystem entstand. Während in St. Gallen sesshafte Metzger Rinder aus grösseren Entfernungen bezogen und aus Kostengründen meist in Ställen auf heureichen Höfen in Appenzell Ausserrhoden überwintern liessen, kauften sie Kälber in der direkten Umgebung (S. 238–241). Gleichzeitig waren die städtischen Gerber wichtige Abnehmer der Kuh- und Rinderhäute. Anke Sczesny vergleicht im folgenden Beitrag für das 17. und 18. Jahrhundert die Beziehungen zwischen den Reichsstädten Augsburg und Ulm und dem Landhandwerk in ihrer Umgebung. Beide Städte mussten auf eine grössere Zahl von Landwebern, die sich zunehmend in Weberzünften organisierten, und die damit zusammenhängende Konkurrenz reagieren. Während es Augsburg gelang, im 18. Jahrhundert durch die Konzentration auf den innovativen Kattundruck seine Produkte weiterhin abzusetzen, glückte dies Ulm, das mehr auf Abschottung und Restriktionen setzte, trotz des grösseren Territoriums weniger. Gleichzeitig veränderte sich die soziale Struktur der Dörfer, in denen Landhandwerker grösseren Einfluss gewannen.

Die beiden abschliessenden Aufsätze des Bandes lassen sich in die Konsumgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt einordnen. Wolfgang Scheffknecht geht anhand verschiedener Fallbeispiele der Entwicklung des Braugewerbes in der Bodenseeregion vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert nach. Er berücksichtigt dabei den Einfluss des Klimas sowie technische Innovationen, behördliche Vorgaben einschliesslich der Besteuerung und städtische Trinkgewohnheiten. Bezüge zur Landwirtschaft stellen zum Beispiel die Zerstörung von Rebstöcken während des Dreissigjährigen Krieges, die Förderung des Anbaus von Gerste sowie der Hopfenanbau in städtischen Gärten dar (S. 293, 312, 314). Thomas Lau untersucht anhand von Bier und Wein Vergemeinschaftungs- und Abgrenzungsprozesse innerhalb der Stadt und gegenüber dem Land, die sich vielfach in Konflikten äusserten.

Neben die sozialen, wirtschaftlichen und ernährungsphysiologischen Funktionen des Alkohols stellt er ein Beispiel aus Schwäbisch Hall, in dem die Einfuhr und der Verkauf von Wein aus dem Rheinland der lokalen Produktion entgegengesetzt wird (S. 341).

Insgesamt zeigen die Beiträge des Sammelbands die Breite der Fragestellungen, Quellen und Ansätze, die mit der Thematik «Reichsstadt und Landwirtschaft» verknüpft werden können. Auch wenn nicht jeder Bereich explizit thematisiert wurde – so hatte zum Beispiel die Geflügel- und Schweinehaltung in der Stadt im Alltag grosse Bedeutung – gelingt dem Band eine informative und lesenswerte Zusammenschau langjähriger und aktueller Forschungsarbeit

Anmerkungen
1 Dieter Schott, Europäische Urbanisierung (1000–2000). Eine umwelthistorische Einführung, Wien 2014, S. 17.

Zitierweise:
Schanbacher, Ansgar: Rezension zu: Sonderegger, Stefan; Wittmann, Helge; Guggenheimer, Dorothee (Hg.): Reichsstadt und Landwirtschaft, Petersberg 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 497-499. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.